Geschmackssache

Dies Academicus digital, 2.12.2020, 9-17.30h

Ein digital veranstalteter Dies Academicus ist eine Herausforderung, bietet aber auch Chancen für neue Formen der Kooperation. Das hier vorgestellte Programm zum Thema ‚Geschmacksache‘ verdankt sich der Zusammenarbeit verschiedener Nachwuchsgruppen: Beteiligt sind das Strukturierte Promotionsprogramm der Philosophischen Fakultät, das Strukturierte Promotionsprogramm des Instituts für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft und das Nachwuchsforum DIES&DAS, das seit 2015 am Dies Academicus fakultätsübergreifend Vorträge zu einem gemeinsamen Themenschwerpunkt präsentiert.  

Über Geschmack lässt sich nicht streiten!? Wir finden, doch. Ein jedes Geschmacksurteil besitzt eine anthropologische Basis im physischen Geschmacksinn. So ist der Geschmack einerseits etwas ganz Individuelles, andererseits äußert sich im Geschmack ein Urteilsvermögen, das an gesellschaftliche Normen und deren Geschichtlichkeit gebunden ist. Ein Geschmacksurteil kommt z.B. in ästhetischer Hinsicht zum Zuge, etwas ist für uns schön, ein anderes hässlich, Geschmack lagert sich in moralischen Einschätzungen von gutem und schlechtem Handeln ab, er begegnet uns in der Empörung über das Falsche, in der Zustimmung zum Richtigen u.a.m.

Wie können wir uns einer solch wandelbaren Kategorie wie ‚Geschmack‘ und den darin angesprochenen Urteilsvermögen wissenschaftlich nähern?  Welche Normativität entfaltet ein kollektiver Geschmack, wie historisch sind Hinsichten auf das Gute und das Schlechte, wie schreibt sich der natürliche Geschmacksinn in kulturelle Praktiken immer wieder ein?

Die Präsentationen und Vorträge der Nachwuchswissenschaftler*innen stellen Geschmack als einen interdisziplinären Untersuchungsgegenstand mit vielen interessanten Facetten vor. Spezifische Fragestellungen ergeben sich dabei aus den Kontexten der eigenen Forschungsarbeiten in den Fächern Philosophie, Kunstgeschichte, Kultursoziologie, Komparatistik, Geschichte, Germanistik, Anglistik, Medienwissenschaft, Landwirtschaft und Neurowissenschaften.

Betreuer*innen der Vortragenden: Prof. Dr. Clemens Albrecht; Prof. Dr. Wolfgang Blösel; Prof. Dr. Jürgen Fohrmann; Prof. Dr. Markus Gabriel; Prof. Dr. Britta Hartmann; Prof. Dr. Svenja Kranich; Dr. Thorsten Kraska; Prof. Dr. Daniela Pirazzini; Prof. Dr. Ralf Pude; Prof. Dr. Michael Rohrschneider; Prof. Dr. Winfried Schmitz; Priv.-Doz. Dr. Neil Stewart; Prof. Dr. Bernd Weber.

Hier finden Sie das Plakat dieser Veranstaltung.

Programm

Die Kunstmarktforschung ist geprägt von Publikationen zu Protagonisten, die zu ihrer Zeit einen Beitrag zur jeweiligen Moderne geleistet haben. Dabei vergisst diese Fortschrittserzählung aber die Akteure der „breiten Masse“. Das kann die historische Sicht verzerren: Künstlerinnen und Künstler, die einst Avantgarde waren, schufen natürlich weiterhin Werke, auch wenn sie in ihrer Radikalität von anderen, neueren Ideen bereits abgelöst wurden. Genau zu dem Moment begann der Kunstmarkt für ihre Werke zu florieren, denn das private sowie institutionelle Sammeln setzte maßgeblich erst nach der Etablierung neuer künstlerischer Ausdrucksformen ein. Der Vortrag fokussiert den gut bürgerlichen Kunstgeschmack abseits der Avantgarden und verdeutlicht dessen Relevanz für den damaligen Kunstmarkt.

Drastisch ist, was derb, (viel zu) anschaulich oder tabuverletzend ist. Besonders in der Popkultur des 21. Jahrhunderts scheinen drastische Darstellungsweisen jenseits des ‚guten Geschmacks‘ im Horrorfilm, in der Pornographie, der Literatur oder auch der Musik Konjunktur zu feiern. Nicht selten werden Drastik-Konsumenten als Liebhaber des Trashs, des Überzogenen, des Derben bezeichnet, kurz: als diejenigen, die keinen guten Geschmack haben. Der Vortrag möchte sich der Romanverfilmung Der Goldene Handschuh (2019) widmen, welche herbe und teils enttäuschte Kritiken einstecken musste. Der Film sei zu ekelhaft, zu klischeeüberladen, misogyn, er schaue zu lange bei den Grausamkeiten zu und sei deshalb „ganz schrecklich“. Die Journalistin Brigitte Häring urteilt aus diesem Grund: „Das ist zu viel des Guten.“ Der Film lädt dazu ein zu fragen, ob dieses Urteil nicht einfach eine subjektive Geschmacksache widerspiegelt, oder ob die Inszenierung der Gewalt nicht tatsächlich objektiv ‚zu weit‘ geht.

Das Teilen einer gemeinsamen Geschmacksrichtung ist ein wichtiger Faktor für die Förderung der Sozialisierung mit anderen Individuen und liegt der Bildung von Gruppen zugrunde. Auch in der digitalen Welt spielt unsere ästhetische Beurteilung in Bezug auf geteilte oder kommentierte Inhalte (meistens Bilder) eine wichtige Rolle in der Bestimmung unserer Filter Bubble und unserer Zugehörigkeit zu gewissen Benutzergruppen. Die Kategorien „Kitsch”, „Trash” und „Bad Taste” werden in diesem Zusammenhang von einigen Leuten stolz benutzt, um ihren eigenen Geschmack zu bezeichnen und zu beweisen, dass sie bewusst und aufgrund eines Metablicks bestimmte ästhetische Ausdrucksformen bevorzugen. Andererseits werden diese Labels abwertend gebraucht, um den Geschmack von anderen (oft ahnungslosen) Individuen als schlecht, trivial oder vulgär zu verspotten. Durch konkrete Beispiele wird in dem Vortrag gezeigt, was hinter diesen Begriffen steckt und warum sie je nach Gruppe unterschiedlich verwendet werden.

Süß, salzig, sauer und bitter – wir alle sind täglich mit diesen Sinneswahrnehmungen konfrontiert. Nicht nur unser Essen, sondern auch der Geschmack geht immer neue Wege. Dabei helfen Pflanzen, die den Geschmack verändern können, wie dies vor einigen Jahren mit Stevia gezeigt werden konnte. Daraus wurde ein heute vielfach eingesetztes Produkt entwickelt. Nun soll an der landwirtschaftlichen Fakultät ein weiterer Schritt in Richtung „guter Geschmack“ gegangen werden. Mit japanischen Teehortensien oder dem chinesischen Süßblatt werden im Forschungsbereich Nachwachsende Rohstoffe neue Wege beschritten. Neben dem eigenen Geschmack offenbaren diese Pflanzen noch weitere Besonderheiten. So kann das Phyllodulcin aus der Teehortensie auch weitere Geschmackseindrücke verändern und so einen bekannten Geschmack auf ein völlig neues Niveau heben. Insbesondere Pflanzeneigenschaften, Anbau und Verarbeitung stehen jetzt im Fokus von Forschung und Entwicklung dieser biobasierten Produkte und werden in diesem Vortrag dargestellt.

The ability to taste food is vital to our health. Not only does taste provide information on the characteristics of food, it also highly influences which food items we choose to consume. While eating „tasty” foods is a pleasurable experience, doing so frequently and in large amounts comes at a high cost on health. Increasing rates of obesity all over the world indicate that it is particularly challenging to prioritize health aspects over the tastiness of food in modern society. Motivated by this challenge and its consequences, our group investigates the factors influencing food related decision-making. Our research shows that contexts such as salient labelling and other marketing actions change the hedonic valuation of the same food items, modulate the value computation of food products in the brain, and even reduce the effect of taste on the decision-making process. Progress in this field has practical implications for public policy interventions targeting unhealthy eating.

Wussten Sie schon, dass ein französischer Kriegsgefangener in Preußen die Kartoffel als Lebensmittel für unsere linksrheinischen Nachbarn entdeckt haben soll? Die Versorgung mit Nahrung ist DAS Grundbedürfnis von Kriegsgefangenen und die Pflicht ihrer Gewahrsamsmacht. Im eigentlichen ersten Weltkrieg, dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), war die Inhaftierung und Versorgung tausender feindlicher Soldaten eine praktische Herausforderung für Königreiche wie Frankreich, Großbritannien-Kurhannover und Preußen. Das Spektrum reichte für die Betroffenen von Wasser und Brot bis hin zu Roastbeef und Rotwein. Zugleich kulminierten Diskurse um die Ernährung von Gefangenen, denn abseits der Schlachtfelder wurde ein Propagandakrieg auf kulinarischer Ebene ausgefochten: Mildtätiger sein als der Feind war die Devise, zumindest mit Tinte und Feder – zugleich war das heimische Essen dem fremden Fraß ‚natürlich‘ deutlich überlegen. Erfahren Sie mehr über schmausende Offiziere, hungernde Soldaten, raffgierige Bürger und überforderte Behörden.

In Stadtbezirken, die wie Bad Godesberg von Mobilität und Migration geprägt sind, spielt die Frage nach persönlichen Ortsbezügen eine besondere Rolle: Wie stellen Menschen in ihrer Nachbarschaft Beziehungen her? Wie gehen sie mit Bezügen zu weit entfernten Regionen um? Wer fühlt sich an einem Ort zuhause, wer fühlt sich willkommen und wer nicht? Ein Bereich, an dem sich das untersuchen lässt, ist das Essen. Insbesondere beim Essen außer Haus werden Regionalbezüge verarbeitet und noch unbekannte Personen und Gewohnheiten begegnen sich. Das kultursoziologische Forschungsprojekt „Urbane Esskulturen und integrative Praktiken“ beschäftigt sich deshalb mit der (Be)Deutung von Ethnizität und Gastronomie im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg. Im Vortrag werden Zwischenergebnisse vorgestellt und mit den genannten Fragen verknüpft.

Im antiken Griechenland spielten persönliche und gesellschaftliche Geschmacksurteile eine nicht unerhebliche Rolle beim „Knüpfen“ verwandtschaftlicher Beziehungen. Durch gezielte Heirats- und Adoptionsstrategien wurden nicht nur geeignete Ehepartner und Nachfolger ausgewählt, sondern auch Beziehungen zu deren Verwandten aufgebaut und vertieft. Entscheidungsgrundlage waren verwandtschaftliche Verpflichtungen, aber auch der persönliche „Geschmack“. Ob man eine Person „riechen“ kann oder jemand „ganz nach dem eigenen Geschmack“ ist, hängt nicht nur von persönlichen Sympathien und Antipathien ab, sondern auch von Erfahrungen, Erwartungen und Enttäuschungen im Umgang miteinander. Insbesondere wenn nahe Verwandte zugunsten anderer in Erbschaftsangelegenheiten übergangen wurden, waren langwierige Familienkonflikte die Folge, die über mehrere Generationen vererbt werden konnten und nicht selten vor Gericht endeten. Der Vortrag beleuchtet zeitgenössische Diskussionen zur Verwandtenwahl und zeigt, dass zumindest im antiken Athen über „Geschmack“ viel gestritten wurde.

Wenn bei Tinder, der heute beliebten Dating-App, ein „Match“ entstehen soll, müssen diverse Geschmacksfragen erfüllt werden. Unter anderen medialen Voraussetzungen beschäftigten diese Geschmacksfragen auch die englische Königin Elisabeth I. bei ihrem Herrschaftsbeginn 1558/9, wie Dokumente und Korrespondenzen der frühen Regierungszeit zeigen. Die „Timeline“ war voller Kandidaten, doch nur wenige erhielten von der Königin ein „Like“. Gerade in diesen Fällen bedurfte es schonungsloser Informationen über die Anwärter, immerhin mussten mit dem Geschmack der Königin, den politischen Ansprüchen des Privy Council und des englischen Adels und nicht zuletzt unter den Augen einer angespannten europäischen Fürstenöffentlichkeit höchste Ansprüche erfüllt werden. Statt der heutigen Mbits sandte man Diplomaten, die ihrerseits mit den Geschmäckern ihrer Auftraggeber(innen) überfordert oder nicht einverstanden waren und allerhand zu tun hatten, die gewünschten Informationen zu ergattern. Wie gut, dass sich just zu dieser Zeit zahlreiche Fürsten, darunter auch mögliche „Matches“, in Augsburg zu einem Reichstag trafen…

Das Thema der geschlechtergerechten Sprache ist aktuell ein besonders brisantes und eines, das die Geister scheidet. Während schon in den 1970ern die ersten ernsthaften Diskussionen um das ‚generische Maskulinum‘ und dessen Abbildungskraft anderer Geschlechter aufkamen, hat die Debatte besonders in den letzten Jahren wieder an Fahrt aufgenommen. Schlagwörter wie Gendersternchen, Genderwahn und die dritte Option haben bestimmt schon viele gehört. Doch was bedeutet das? Und wie hängt das alles miteinander zusammen? Was darf man eigentlich, wenn es um geschlechtergerechte Sprache geht? Und was darf man nicht? (Und geht es überhaupt um ‚dürfen‘?) Und wozu ist das Ganze eigentlich gut?

Die aktuelle Debatte kennt viele Seiten; einige von diesen sollen in dieser Präsentation beleuchtet werden. Im Spotlight stehen dabei sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, offizielle Rechtslagen sowie Guidelines und Medienberichte. Doch ganz klar ist bei all diesen eines: Es ist eine Frage des Geschmacks!

Es war durchaus nicht nach dem Geschmack von Ulla Unseld-Berkéwicz, Witwe des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld und seine Nachfolgerin in der Geschäftsführung, als 2006 der Investor Hans Barlach als Minderheitengesellschafter in den Verlag einstieg. Dass sie den Erwerb seiner Verlagsanteile juristisch auf deren Rechtmäßigkeit hin prüfen ließ, während Barlach die Befähigung Unseld-Berkéwiczs als Geschäftsführerin öffentlich in Zweifel zog, markierte Pole eines Spannungsverhältnisses, aus dem ein rund acht Jahre dauernder Rechtsstreit resultierte, der als „Suhrkampf“ die Aufmerksamkeit der internen und externen Öffentlichkeit auf sich zog. Dieser sei – so der Journalist Richard Kämmerlings – insofern einmalig in der deutschen Verlagsgeschichte, als er „nicht nur vor Gericht […], sondern auch und mit nicht weniger harten Bandagen im Feuilleton“ ausgetragen wurde.

Der Vortrag gibt Einblick in wesentliche Dimensionen dieses Streites und seiner Begleitung durch die Leitmedien der Presse aus diskursanalytischer Sicht, aus der u. a. die Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit durch das Medium Sprache gestellt wird.

„Diese Arbeitsplatz-Sitcom dürfte Ihnen gefallen“: Sätze wie diese kommen bei Netflix‘ neuester Funktion zum Einsatz, der „Zufälligen Wiedergabe“, die diverse Titel des Streaming-Dienstes für unentschlossene Zuschauer_innen anspielt. Sie sollen die ausgewählten Titel begründen, indem sie z.B. auf die vermeintliche Vorliebe für ein bestimmtes TV-Genre anspielen. Zugleich verraten sie, dass die Wiedergabe gar nicht zufällig ist, sondern auf Daten beruht, die die Plattform über den oder die Nutzer_in gesammelt hat. Das Empfehlungssystem von Netflix verspricht, durch persönliche Profile und „Vorschläge für xy“ den ‚individuellen‘ Geschmack seiner User_innen zu bedienen. Algorithmen sortieren diese aber in spezifische Cluster aus generischen und thematischen Merkmalen, die dem oder der Zuschauer_in stets ähnliche Titel vorgeschlagen werden. Der Vortrag untersucht, welche kommerziellen Interessen diese künstlichen „Geschmackgemeinschaften“ bedienen.

In einer Gesellschaft, in der politische Phasen in Krisenszenarien eingeteilt werden, sind die immer emotionaler ausgetragenen Kämpfe um eine objektive Wahrheit sowie alternative Angebote zur Erklärung und Verarbeitung politischer Ereignisse keineswegs ein punktuelles, auf Einzelakteure wie den amerikanischen Präsidenten reduzierbares Phänomen. Stattdessen schwappen Strömungen, die Rezipient*Innen alternative Fakten wie eine neue Eissorte anbieten, mehr und mehr nach Europa und bieten so, ganz im Sinne des Politainments, jedem Kunden die Realität, die dem eigenen gusto entspricht. Aber wird Realität so zur reinen Geschmacksache, über die sich aufgrund von unterschiedlichen normativen Grundvoraussetzungen nicht (mehr) streiten lässt? Diese Frage soll nach einem kurzen Impulsvortrag aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet und diskutiert werden.

Jonas Bechtold M.A. (Philosophische Fakultät/Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte/Zentrum für Friedensforschung)

Prof. Dr. Ulrich Ettinger (Philosophische Fakultät/Institut für Psychologie; Prodekan für Forschung und Internationales der Philosophischen Fakultät)

Vertretungsprofessor Dr. Peter Glasner (Philosophische Fakultät/Germanistische Mediävistik; Strukturiertes Promotionsprogramm des Instituts für Germanistik)

Priv.-Doz. Dr. Hedwig Pompe (Philosophische Fakultät/Neuere deutsche Literatur; Arbeitsstelle Internationales Kolleg; DIES&DAS Forum)

Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Katholisch-Theologische Fakultät/Moraltheologie; Dekan; DIES&DAS Forum)

Prof. Dr. Annette Scheersoi (Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät/Fachdidaktik Biologie; DIES&DAS Forum)

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